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Objekt des Monats

Oktober 2023

Heinrich von Kleist und das Militär

Die Koalitions- bzw. die Napoleonischen Kriege (1792-1815) ordneten zu Beginn des 19. Jahrhunderts die politische Landkarte Europas neu und brachten die machtpolitischen Strukturen des Ancien Régimes ins Wanken. Fast alle Lebensbereiche waren infolgedessen geprägt von Unsicherheiten, von Instabilität, aber auch von einer allgemeinen Aufbruchsstimmung. Spätestens die Niederlage der preußischen Armee gegen die Truppen Napoleons bei Jena und Auerstedt im Oktober 1806 bestätigte die Auflösung der alten Ordnungen.

Das preußische Militärwesen prägte Kleist, der einem alten pommerschen Adels- und Offiziersgeschlecht entstammte, seit frühester Kindheit und Jugend an. Am 1. Juni 1792 trat er mit gerade einmal 14 Jahren als Gefreiter-Korporal in das Potsdamer Infanterieregiment Garde Nr. 15 ein und gehörte dort dem dritten Bataillon an, das im Rahmen des Rheinfeldzugs mehrfach in Kampfhandlungen verwickelte wurde – u. a. in den Gefechten bei Trippstadt im Juli 1794 (vgl. von Herrmann 2013: S. 258).

So ist es nicht weiter erstaunlich, dass das preußische Militär sowie die Beschreibungen von Kampfhandlungen eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für Kleists literarisches Werk haben. Der Krieg lieferte Kleist einen konkreten Schauplatz für seine Dichtung, die sich entgegen der gängigen literarischen Strömungen auf anti-klassizistische Weise dem Irregulären verschreibt (vgl. 258). Nicht ohne Grund wird in der Kleist-Forschung von einer „Literatur des Krieges“ (ebd.: 258; zit. nach Carrière 1981) gesprochen.

In einer wegweisenden Arbeit hat der Literaturwissenschaftler Wolf Kittler gezeigt, dass vor allem der preußische Diskurs des Partisanenkriegs das literarische Werk Kleists in einem weitreichenden Maße bestimmt hat (vgl. 259). Der militärische Typus des Partisanen, der im spanischen Guerillakrieg von 1808 geboren wurde, verkörperte das genaue Gegenteil des gedrillten preußischen Soldaten. Während der napoleonischen Besatzung avancierte der Partisane unter den national-gesinnten Berliner Intellektuellen zum propagandistischen Leitbild des antifranzösischen Widerstands (vgl. ebd.: 258). Diesem Milieu kann auch Kleist zugeordnet werden, der mit „Die Herrmannsschlacht“ nach Carl Schmitt „die größte Partisanendichtung aller Zeiten“ (259; Schmitt 1992) geschrieben hat.

Die kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten des preußischen Militärwesens (z. B. in „Prinz Friedrich von Homburg“) spiegelt auch Kleists eigenen Konflikt wider. Mit seiner Militärkarriere war er zutiefst unzufrieden. Beeinflusst durch die Lektüre aufklärerischer Texte brachte Kleist in Briefen an seine Tante und an seine Halbschwester Ulrike seinen Unmut über das Militär sowie seine Zweifel an der von ihm ausgeübten Tätigkeit zum Ausdruck: „Gebe uns der Himmel nur Friede, um die Zeit, die wir hier so unmoralisch tödten, mit menschenfreundlicheren Thaten bezahlen zu können!“ (von Kleist 1795: 56-57).

1799 beendet er seine Militärlaufbahn entgegen den Traditionen und Wünschen seiner Familie „aus eignem Antriebe um meine Studia zu vollenden“ (Kleist 1799: 2). Seine Affinität zu militärischen Themen hatte Kleist jedoch nie ganz verloren. Auch wenn er nicht mehr im aktiven Dienst stand, hatten die verschiedenen Aspekte des preußischen Militärwesens einen großen Einfluss auf seine Werke und sind gleichzeitig ein Spiegelbild seiner Zeit und seiner eigenen Erfahrungen im preußischen Militär.

Vor dem Hintergrund dieses Aspektes aus Heinrich von Kleists Leben präsentieren wir unser Objekt des Monats für den September:

Rühle von Lilienstern, Otto August: Handbuch für den Offizier zur Belehrung im Frieden und zum Gebrauch im Felde. Erste und Zweite Abtheilung (in zwei Bänden). Berlin: G. Reimer 1817.

Hierbei handelt es sich, wie beim letzten ‚Objekt des Monats‘ um einen zeitgenössischen Ratgeber – diesmal für Offiziere. Darin erklärt“ werden verschiedene Szenarien und Vorgaben, wie sich ein Offizier des preußischen Militärs in Kriegs- sowie in Friedenszeiten zu verhalten habe.

Primärliteratur

Von Kleist, Heinrich: 25.02.1795: An Ulrike v. Kleist. [Brief]. Kleist-digital.de. Hrsg. Von Günther Dunz-Wolff. (URL: kleist-digital.de/briefe/002 [56-57], 26.09.2023).

Von Kleist, Heinrich: 17.04.1799: Revers zum Ausscheiden aus dem Militär. [Brief]. Kleist-digital.de. Hrsg. Von Günther Dunz-Wolf. (URL: kleist-digital.de/briefe/004 [2], 26.09.2023.

Sekundärliteratur

Herrmann, Hans-Christian von: Militärwesen. In: (Hg.) Ingo Breuer: Kleist-Handbuch. Lebern – Werk – Wirkung. Sonderausgabe. Stuttgart: Metzler 2013. S.258-260.

2023

Oktober 2023

Heinrich von Kleist und das Militär

Die Koalitions- bzw. die Napoleonischen Kriege (1792-1815) ordneten zu Beginn des 19. Jahrhunderts die politische Landkarte Europas neu und brachten die machtpolitischen Strukturen des Ancien Régimes ins Wanken. Fast alle Lebensbereiche waren infolgedessen geprägt von Unsicherheiten, von Instabilität, aber auch von einer allgemeinen Aufbruchsstimmung. Spätestens die Niederlage der preußischen Armee gegen die Truppen Napoleons bei Jena und Auerstedt im Oktober 1806 bestätigte die Auflösung der alten Ordnungen.

Das preußische Militärwesen prägte Kleist, der einem alten pommerschen Adels- und Offiziersgeschlecht entstammte, seit frühester Kindheit und Jugend an. Am 1. Juni 1792 trat er mit gerade einmal 14 Jahren als Gefreiter-Korporal in das Potsdamer Infanterieregiment Garde Nr. 15 ein und gehörte dort dem dritten Bataillon an, das im Rahmen des Rheinfeldzugs mehrfach in Kampfhandlungen verwickelte wurde – u. a. in den Gefechten bei Trippstadt im Juli 1794 (vgl. von Herrmann 2013: S. 258).

So ist es nicht weiter erstaunlich, dass das preußische Militär sowie die Beschreibungen von Kampfhandlungen eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für Kleists literarisches Werk haben. Der Krieg lieferte Kleist einen konkreten Schauplatz für seine Dichtung, die sich entgegen der gängigen literarischen Strömungen auf anti-klassizistische Weise dem Irregulären verschreibt (vgl. 258). Nicht ohne Grund wird in der Kleist-Forschung von einer „Literatur des Krieges“ (ebd.: 258; zit. nach Carrière 1981) gesprochen.

In einer wegweisenden Arbeit hat der Literaturwissenschaftler Wolf Kittler gezeigt, dass vor allem der preußische Diskurs des Partisanenkriegs das literarische Werk Kleists in einem weitreichenden Maße bestimmt hat (vgl. 259). Der militärische Typus des Partisanen, der im spanischen Guerillakrieg von 1808 geboren wurde, verkörperte das genaue Gegenteil des gedrillten preußischen Soldaten. Während der napoleonischen Besatzung avancierte der Partisane unter den national-gesinnten Berliner Intellektuellen zum propagandistischen Leitbild des antifranzösischen Widerstands (vgl. ebd.: 258). Diesem Milieu kann auch Kleist zugeordnet werden, der mit „Die Herrmannsschlacht“ nach Carl Schmitt „die größte Partisanendichtung aller Zeiten“ (259; Schmitt 1992) geschrieben hat.

Die kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten des preußischen Militärwesens (z. B. in „Prinz Friedrich von Homburg“) spiegelt auch Kleists eigenen Konflikt wider. Mit seiner Militärkarriere war er zutiefst unzufrieden. Beeinflusst durch die Lektüre aufklärerischer Texte brachte Kleist in Briefen an seine Tante und an seine Halbschwester Ulrike seinen Unmut über das Militär sowie seine Zweifel an der von ihm ausgeübten Tätigkeit zum Ausdruck: „Gebe uns der Himmel nur Friede, um die Zeit, die wir hier so unmoralisch tödten, mit menschenfreundlicheren Thaten bezahlen zu können!“ (von Kleist 1795: 56-57).

1799 beendet er seine Militärlaufbahn entgegen den Traditionen und Wünschen seiner Familie „aus eignem Antriebe um meine Studia zu vollenden“ (Kleist 1799: 2). Seine Affinität zu militärischen Themen hatte Kleist jedoch nie ganz verloren. Auch wenn er nicht mehr im aktiven Dienst stand, hatten die verschiedenen Aspekte des preußischen Militärwesens einen großen Einfluss auf seine Werke und sind gleichzeitig ein Spiegelbild seiner Zeit und seiner eigenen Erfahrungen im preußischen Militär.

Vor dem Hintergrund dieses Aspektes aus Heinrich von Kleists Leben präsentieren wir unser Objekt des Monats für den September:

Rühle von Lilienstern, Otto August: Handbuch für den Offizier zur Belehrung im Frieden und zum Gebrauch im Felde. Erste und Zweite Abtheilung (in zwei Bänden). Berlin: G. Reimer 1817.

Hierbei handelt es sich, wie beim letzten ‚Objekt des Monats‘ um einen zeitgenössischen Ratgeber – diesmal für Offiziere. Darin erklärt“ werden verschiedene Szenarien und Vorgaben, wie sich ein Offizier des preußischen Militärs in Kriegs- sowie in Friedenszeiten zu verhalten habe.

 

Primärliteratur

Von Kleist, Heinrich: 25.02.1795: An Ulrike v. Kleist. [Brief]. Kleist-digital.de. Hrsg. Von Günther Dunz-Wolff. (URL: kleist-digital.de/briefe/002 [56-57], 26.09.2023).

Von Kleist, Heinrich: 17.04.1799: Revers zum Ausscheiden aus dem Militär. [Brief]. Kleist-digital.de. Hrsg. Von Günther Dunz-Wolf. (URL: kleist-digital.de/briefe/004 [2], 26.09.2023.

Sekundärliteratur

Herrmann, Hans-Christian von: Militärwesen. In: (Hg.) Ingo Breuer: Kleist-Handbuch. Lebern – Werk – Wirkung. Sonderausgabe. Stuttgart: Metzler 2013. S.258-260.

Juli 2023

Heinrich von Kleist auf Reisen

Liebe Wilhelmine, laß mich reisen. Arbeiten kann ich nicht, das ist nicht möglich, ich weiß nicht zu welchem Zwecke. Ich müßte, wenn ich zu Hause bliebe, die Hände in den Schoß legen, und denken. So will ich lieber spatzieren gehen, und denken. Die Bewegung auf der Reise wird mir zuträglicher sein, als dieses Brüten auf einem Flecke. (Kleist v. 1801: 202-207).

Dies schrieb Heinrich von Kleist am 22. März 1801 seiner Verlobten Wilhelmine von Zenge, als er von einer „Fußreise aus Potsdam“ (ebd.: 7) zurück nach Berlin kehrte. Weiterhin erzählt er ihr von seiner Erkenntniskrise, die ihn zwei Jahre zuvor veranlassten, aus dem preußischen Militär auszutreten. Seit diesem erbetenen Abschied 1799 versuchte Heinrich von Kleist sowohl seine Autonomie als auch seinen ‚Lebensplan‘ mit ständig neuen Projekten als Bauer, Gelehrter, Angestellter und schließlich als Dichter zu verwirklichen.

Heinrich von Kleist war ein Reisender – im doppelten Sinne.

Im Sommer 1800 brach er gemeinsam mit seinem Freund Ludwig von Brockes zu seiner ersten größeren Reise auf – geplant war von Frankfurt (Oder) über Dresden nach Wien zu fahren. In Dresden änderten sie ihr Ziel jedoch und fuhren stattdessen für sechs Wochen nach Würzburg. Über den „Sinn und Zweck“ dieses neuen Reiseziels spekuliert die Kleist-Forschung nach wie vor (vgl. Breuer, Gutterman: 2013: 6).

Seit dieser Reise verbrachte Heinrich von Kleist sein Leben ohne nennenswerten festen Mittelpunkt an ständig wechselnden Orten in Preußen, in den deutschen Landen, in Frankreich oder in der Schweiz. Auffällig ist dabei, dass mit einem Ortswechsel oft Zäsuren bzw. einschneidende Erlebnisse in Kleists Biographie einhergingen:

Im Zuge der sogenannten „Kant-Krise“ 1801 reiste Kleist mit seiner Halbschwester Ulrike über mehrere Monate nach Dresden sowie über verschiedene Stationen bis nach Paris. Kleists Sinnkrise bot ihm nicht nur Anlass zu seiner ersten Paris-Reise, sondern markiert gleichzeitig den Beginn seines schriftstellerischen Schaffens (vgl. Breuer 2013: 2).

In Thun (Schweiz) wollte Kleist ein Jahr später ein Landgut kaufen, um Bauer zu werden, stattdessen kam es dort 1802 zum Bruch mit seiner Verlobten Wilhelmine von Zenge.

In Dresden ließ sich Kleist 1807 mit dem Vorhaben nieder, sich „irgendwo in der Nähe des Buchhandels aufzuhalten“ (Kleist v. 08.06.1807: 53), um als Verleger tätig zu werden.

Kleists umfangreiches Werk von acht Dramen, zwölf Erzählungen, Gedichten und Aufsätzen, kleineren Schriften und Anekdoten sowie zahlreichen journalistischen und redaktionellen Beiträgen inklusive der Herausgabe eines Kunstjournals und einer Tageszeitung ist somit an verschiedenen Orten in ganz Europa entstanden.

Vor dem Hintergrund dieses Aspektes aus Heinrich von Kleists Leben präsentieren wir unser Objekt des Monats für den Juli:

Kriegsrath Reichard: Der Passagier auf der Reise in Deutschland, in der Schweiz, zu Paris und Petersburg. Ein Reisehandbuch für Jedermann. Vierte, ganz umgearbeitete, neuverbesserte und neuvermehrte Auflage. Berlin: 1811.

Hierbei handelt es sich um einen zeitgenössischen Ratgeber für Reisende. Darin „erklärt“ werden nicht nur die verschiedenen Arten des Reisens (zu Fuß, mit dem Pferd oder der Postkutsche); enthalten sind auch Übersichten zu verschiedenen Maßeinheiten und Wechselkursen, Karten mit Streckenplänen der Postkutschen sowie Hinweisen, welche Speisen und Getränke sich am besten für die jeweilige Reiseart eigenen. Möglich, dass auch Heinrich von Kleist einen solchen Ratgeber auf seinen vielen Reisen mit sich führte.

Auch das Kleist-Archiv Sembdner wechselt diesen Sommer seinen Standort und zieht in Kürze aus den alten Räumlichkeiten im K3 in das neue Quartier – ebenfalls im K3 – um. Aus diesem Grund pausiert die Reihe „Objekt des Monats“.

Das nächste Objekt des Monats erscheint voraussichtlich wieder im September.

Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Sommer.

 

Primärliteratur

Von Kleist, Heinrich: 22.03.1801: An Wilhelmine v. Zenge [Brief]. Kleist-digital.de. Hrsg. Von Günther Dunz-Wolff. (URL: https://kleist-digital.de/briefe/037 202-207 ], 26.07.2023).

Von Kleist, Heinrich: 08.06.1807: An Ulrike von Kleist [Brief]. Kleist-digital.de. Hrsg. Von Günther Dunz-Wolff. (URL: https://kleist-digital.de/briefe/106 [Z.53-54], 27.07.2023).

Sekundärliteratur

Breuer, Ingo u: Biographische Skizze. In: (Hg.) Ingo Breuer: Kleist-Handbuch. Lebern – Werk – Wirkung. Sonderausgabe. Stuttgart: Metzler 2013. S.1-4.

Breuer, Ingo u. Guttermann, Julia: Zeittafel. In: (Hg.) Ingo Breuer: Kleist-Handbuch. Lebern – Werk – Wirkung. Sonderausgabe. Stuttgart: Metzler 2013. S.5-10.

Juni 2023

Heinrich von Kleist, ein Journalist?

Heinrich von Kleist, der Verfasser von Dramen, Novellen und Erzählungen, ist weltweit bekannt.

Heinrich von Kleist, der Journalist und Redakteur, hingegen weniger.

Auch in der literaturwissenschaftlichen Forschung sind Kleists journalistisch-redaktionelle Projekte – namentlich der „Phöbus. Ein Journal für die Kunst“ sowie die „Berliner Abendblätter“ – bis in die späten 1990er-Jahre hinein eher stiefkindlich behandelt worden (vgl. Knittel 2013: 163; vgl. Peters 2013: 168). Dabei finden sich in ihnen Fragmente zu Vorstufen von Kleists Arbeiten sowie zahlreiche Idyllen, Gelegenheitsgedichte, Fabeln sowie kleinere politische Beiträge von Kleist.

Wir präsentieren unser Objekt des Monats im Juni und möchten damit auf Kleists journalistisches Schaffen aufmerksam machen:

Faksimile-Ausgabe der Phöbus-Erstdrucke. Kleist, Heinrich v. & Müller, Adam Heinrich (Hg.): Phöbus. Ein Journal für die Kunst. München: Meyer&Jessen 1924 (=Neudrucke Romantischer Seltenheiten Bd.2).

 

Dem „Phöbus“ vorausgegangen ist Kleists Absicht, sich „irgendwo in der Nähe des Buchhandels aufzuhalten, wo er am Wenigsten daniederliegt“ (Kleist v. 08.06.1807: 53-54). Nach seiner Freilassung aus der französischen Gefangenschaft (wegen angeblicher Spionage) ließ sich Kleist 1807 in Dresden nieder. Dort fasste er zunächst den Entschluss, gemeinsam mit dem Dresdner Staatstheoretiker und Diplomaten Adam Heinrich Müller eine „Buch-Karten-und Kunst-Handlung“ (Kleist v. 17.09.1807: 10) zu gründen. Diese Pläne scheiterten jedoch am Widerstand der Dresdner Buchhändler, die keine weitere Konkurrenz am Ort wünschten; anstelle der geplanten Kunstbuchhandlung „Phönix“ erschien am 23. Januar 1808 ein anderes Projekt – das Kunstjournal „Phöbus“ (dt. der Glänzende) im Selbstverlag (vgl. Knittel 2013: 163). Hierzu werben Kleist und Müller bei hochkarätigen Zeitgenossen wie Goethe, Wieland, Tieck, Friedrich Schleiermacher, Jean Paul u. a. um (Gast-)Beiträge in diesem Gemeinschaftsprojekt.

Das anspruchsvolle Programm, das dem „Phöbus“ zugrunde liegt, zeigt sich nicht nur in seinem ungewöhnlichen Format – eine zur ersten Ausgabe 58 Seiten starke Zeitschrift im Quartformat mit aufwendigen Kupferstichen als Titel- und Umschlagbilder – sondern auch im von Heinrich von Kleist verfassten Prolog, der vor Selbstbewusstsein, Pathos und Kraftentfaltung nur so strotzt:

Wettre hinein, o du, mit deinen flammenden Rossen,/ Phöbus, Bringer des Tags, in den unendlichen Raum!/ Gieb den Horen dich hin! Nicht um dich, neben, noch/ rückwarts,/ Vorwärts wende den Blick, wo das Geschwader sich regt!/ Donnr‘ einher, gleichviel, ob über die Länder der Men-/schen,/Achtlos, welchem du steigst, welchem Geschlecht du ver-/sinkst,/ Hier jetzt lenke, jetzt dort, so wie die Faust sich dir/ stellt,/ Weil die Kraft dich, der Kraft spielende Übung, erfreut./ Fehlen nicht wirst du, du triffst, es ist der Tanz um/ die Erde,/ Und auch vom Wartthurm entdeckt unten ein Späher/ das Maas.“ (Kleist v. 1924).

Aufgrund von teilweise großen Publikationsverzögerungen und wohl auch der ungewohnten Ästhetik und dem interdisziplinären Mit- und Ineinander von Dichtkunst, Philosophie und bildenden Künsten wegen, wurde der „Phöbus“ von den Zeitgenossen eher verhalten aufgenommen (vgl. ebd.: 164). Obwohl es auch einige wohlwollende Vorabbesprechungen gab, fehlte es nicht an anonymen und pseudonymen Kritiken und Lästereien über das neue Journal (vgl. ebd.). Dies führte u.a.  dazu, dass der „Phöbus“ lediglich einen Jahrgang erlebte und im Dezember 1808 eingestellt wurde.

 

Kleists zweites journalistisches Projekt – die „Berliner Abendblätter“ – erschienen von Oktober 1810 bis März 1811 täglich außer sonntags und ist damit eine der ersten deutschsprachigen Tageszeitungen (vgl. Peters 2013: 167). Das nur vier Seiten im Oktavformat starke Blatt wurde von Kleist im ersten Quartal beim Verleger Hitzig und im zweiten bei Verleger Kuhn publiziert (vgl. ebd.). Die „Berliner Abendblätter“ zeichneten sich durch eine außergewöhnliche Mischung von Textsorten aus:

Nebst Anekdoten, Kunst- und Theaterkritiken, Berichten zu aktuellen Themen und Stellungnahmen sowie eigenen Erzählungen und Gedichten stellte Kleist auch „Polizeinachrichten“ aus den amtlichen Polizeirapporten zusammen. In den „Berliner Abendblättern“ wird ‚True Crime‘ somit erstmals ein wesentlicher Bestandteil deutschsprachiger Tagespresse (vgl. Peters 2013: 167). Anzumerken ist hier, dass der anfängliche Erfolg der „Berliner Abendblätter“ weniger Kleists eigenen literarischen Beiträgen, sondern insbesondere der Berichterstattung über die sog. ‚Mordbrennerbande‘ zuzuschreiben ist, die in Brandenburg und Berlin für zahlreiche Brandschatzungen verantwortlich war. 

Die eigentümliche Textmischung aus Tagesnachrichten, aktueller Berichterstattung und literarischen Texten löste bei der zeitgenössischen Leserschaft einige Irritationen aus. So schrieb bspw. Wilhelm Grimm an Clemens Brentano: „[E]s ist als ob jemand, der uns raisonabel unterhalten, auf einmal mit seltsamer Vertraulichkeit seine Taschen herauszög, die Brodkrumen herauswischte und die Löcher zeigte […]“ (Peters 2013: 167, zit. nach Staengle 1997: 376).

Nachdem die polizeilichen Berichterstattungen, die Theaterkritiken und schließlich auch der Versuch, politische Nachrichten zum Kriegsverlauf zu drucken an der erstarkenden Zensur scheiterten, blieb der kommerzielle Erfolg auf bei den „Berliner Abendblättern“ aus, sodass die Zeitung nach dem zweiten Quartal eingestellt wurde.

Ob Heinrich von Kleist auch nach heutigen Maßstäben als „Journalist“ bezeichnet werden kann, darf kritisch hinterfragt werden. Nichtsdestotrotz sind seine journalistisch-redaktionellen Arbeiten und Gemeinschaftsprojekte, der „Phöbus“ sowie die „Berliner Abendblätter“, ebenso spannend und ergiebig wie seine weltberühmten Dramen und Erzählungen.

 

Weiterführend: In der Folge „Kleist, der Journalist“ unseres Podcasts „Warum Kleist?“ spricht die Journalistin Anna-Lena Scholz mit Literaturhausleiter Dr. Anton Knittel über ihr Interesse für Kleists verlegerische Arbeit und diskutiert, ob vom „Journalisten“ Kleist überhaupt gesprochen werden kann.

 

 

 

Primärliteratur

Von Kleist, Heinrich: 08.06.1807: An Ulrike von Kleist [Brief]. Kleist-digital.de. Hrsg. Von Günther Dunz-Wolff. (URL: https://kleist-digital.de/briefe/106 [Z.53-54], 27.06.2023).

Von Kleist, Heinrich: 17.09.1807: An Ulrike von Kleist [Brief]. Kleist-digital.de. Hrsg. Von Günther Dunz-Wolff. (URL: https://kleist-digital.de/briefe/113 [Z.10], 27.06.2023).

Von Kleist: Prolog. In: Kleist, Heinrich v. / Müller, Adam H. (Hrsg.): Phöbus. Ein Journal für die Kunst. München: Meyer & Jessen, 1924. Faksimile-Ausgabe der Phöbus-Erstdrucke. Kleist-digital.de. Hrsg. von Günther Dunz-Wolff. (URL: kleist-digital.de/phoebus/01/01, 28.06.2023).

 

Sekundärliteratur

Knittel, Anton Philipp: Phöbus. Ein Journal für die Kunst. In: (Hg.) Ingo Breuer: Kleist-Handbuch. Lebern – Werk – Wirkung. Sonderausgabe. Stuttgart: Metzler 2013. S.162-166.

Peters, Sybille: Berliner Abendblätter. In: (Hg.) Ingo Breuer: Kleist-Handbuch. Lebern – Werk – Wirkung. Sonderausgabe. Stuttgart: Metzler 2013. S.166-172.

 

 

Mai 2023

Karla Woisnitza und die Herrmannsschlacht

Was haben die Streamingplattform Netflix und Heinrich von Kleist gemeinsam?

Beide haben sich für eine Produktion bzw. ein Werk am historischen Stoff der Varusschlacht im Teutoburgerwald bedient. Bei Netflix laufen seit Oktober 2020 „Die Barbaren“ über den Bildschirm; Heinrich von Kleist wiederum begann unter dem Eindruck der Rebellion der Spanier gegen Napoleon (Volksaufstand in Madrid 1808) seine Arbeit an „Die Herrmannsschlacht“ (vgl. u.a. Müller-Salget 2013: 77).

Was Beiden noch gemein ist? Sowohl die Regisseure der Netflix-Produktion, als auch Heinrich von Kleist haben den historischen Stoff entsprechend umgeformt: Bei Kleist wird aus dem militärischen Helden Arminius bzw. Herrmann ein Intellektueller, der als skrupelloser Stratege einen Schlachtplan entwickelt, die Germanen mit Gräuelpropaganda aufstachelt und sich auch nicht davor scheut, eine Tändelei seiner Gattin Thusnelda mit dem römischen Legaten Ventidius in seine Pläne miteinzubeziehen.

Insofern überrascht es kaum, dass Kleists Drama „Die Herrmannsschlacht“ als „problematisches, […] Ärgernis erregendes Werk“ (ebd.: 79) gilt, zumal seine deutliche Vereinnahmung während der Zeit des Nationalsozialismus die Rezeptionsgeschichte entsprechend beeinflusste.

Entstanden ist das Drama vor dem Hintergrund der Napoleonischen Kriege. Kleists Verhältnis zu Napoleon kann, laut Forschung, bestenfalls als ambivalent beschrieben werden. Am 24. Oktober 1806 schrieb er an seine Halbschwester Ulrike: „Wir sind die unterjochten Völker der Römer“ (ebd.: 76). Um gegen die französische Besatzung unter Napoleon vorzugehen, schrieb Kleist seine „Herrmannsschlacht“ mit dem agitatorischen Ziel, den Kampf gegen die französische Fremdherrschaft propagandistisch zu befeuern (vgl. ebd.). Dieses Anliegen war Kleist derart ernst, dass er in einem Brief vom 20. April 1809 schrieb: „jede Bedingung ist mir gleichgültig, ich schenke es [„Die Herrmannsschlacht“] den Deutschen; machen Sie nur, daß es gegeben wird“ (von Kleist 1809: 50-51).

Vor dem Hintergrund des kurzzeitigen Erfolgs der österreichischen Erhebung gegen Napoleon schickte Kleist am 1.Januar 1809 dem Wiener Dichter und Hofsekretär Heinrich Joseph von Collin eine Abschrift der „Herrmannsschlacht“ und bat ihn eindringlich, sich für eine Aufführung des Stückes am Wiener Hoftheater einzusetzen, das, wie er in zwei weiteren Briefen unterstrich, „einzig und allein auf diesen Augenblick berechnet“ sei“ (Müller-Salget, Klaus 2013: 77). Der ‚Augenblick‘ verstrich und im Zuge der Niederlage gegen Napoleon war an eine Aufführung oder einen Druck des Dramas vorerst nicht zu denken.

Erst 1818 wurde ein leicht abweichendes Bruchstück des Dramas (mit dem Titel „Marbod und Herrmann“) abgedruckt. 1821 erschien das Drama im Ganzen in den von Ludwig Tieck herausgegebenen „Hinterlassenen Schriften“ Kleists. Seine Erstaufführung hatte das Stück 1839 in Pyrmont, wo es vom Detmolder Hoftheater aufgeführt wurde.

Die weitere Rezeptionsgeschichte zeigt, wieso Kleists Stück einen derart problematischen Ruf genießt: War die politische Situation während der Restauration denkbar ungeeignet für eine Aufführung der „Herrmannsschlacht“, wurde das Stück erst wieder 1860 zum Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig in einer Fassung von Feodor Wehl aufgeführt – allerdings ohne größeren Erfolg. Erst in der Kaiserzeit setzte sich das Stück durch, da man das Drama „als prophetische Voraussage von Bismarcks ‚Einigungswerk‘“ interpretierte (ebd.). Im sogenannten ‚Dritten Reich‘ avancierte das Drama zum meistgespielten Stücks Heinrich von Kleists überhaupt. Es galt als „Gründungsmythos des Dritten Reichs‘, da Herrmann die Einigung aller Germanen bzw. Deutschen im gnadenlosen Kampf gegen den Feind aufgezeigt habe. (vgl. ebd.). Aufgrund seiner Beliebtheit während der Nazizeit wurde das Stück nach 1945 kaum mehr aufgeführt. Auch nach der international viel diskutierten Inszenierung von Claus Peymann (1982) im Schauspielhaus Bochum, der Herrmann u. a. mit Anklängen an den südamerikanischen Guerillero Che Guevara zeigte, bleibt „Die Herrmannsschlacht“ noch immer Kleists problematischstes Werk.

Diese unrühmliche Rezeptionsgeschichte kommt nicht von ungefähr: 

Das Stück gibt mit seiner „hasserfüllten Einseitigkeit, mit seinen Totschlags-Parolen und seinen ‚Sieg-oder-Untergang‘-Phantasien“ (ebd.) ausreichend viele Anknüpfungspunkte für eine derartige Rezeption.

„Die Herrmannsschlacht“ nimmt somit eine Sonderstellung in Kleists dramatischem Werk ein: Auf Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten, die seine Dichtung ansonsten kennzeichnen, verzichtet Kleist zugunsten einer „ihm im Grunde wesensfremden Eindeutigkeit, von der er sich eine Fanalwirkung versprach.“ (ebd.).

Rar gesät sind auch die künstlerischen Auseinandersetzungen mit Kleist „Herrmannsschlacht“; sie „spiegeln oft die Hilflosigkeit im Umgang mit dem Drama wieder“ (Wilk-Mincu 2002: 10). Erst in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts findet „Die Herrmannsschlacht“ größere Beachtung bei den Kunstschaffenden – wohl nicht zufällig fällt auch die Inszenierung von Peymann in diesen Zeitraum (vgl. ebd.).

Auch die Künstlerin Karla Woisnitza (geboren 1952 in Rüdersdorf bei Berlin) beschäftigte sich ausgiebig mit Kleists Werken. „Die Herrmannsschlacht“ soll ihr aus der Seele gesprochen haben, sodass sie bereits 1979 einen umfangreichen Zyklus von insgesamt 50 Zeichnungen mit Blei, Grafit, Aquarell, Farbstiften und Tusche (DIN-A-3-Format) schuf (vgl. ebd.: 15).

In diesem Monat stellen wir dieses Stück der Kleistrezeption vor:

Woisnitza, Karla: Die Hermannsschlacht. Ein Drama von Kleist. Als Bildgeschichte in 50 Zeichnungen.

Wer unser Objekt des Monats Mai 2023 vor Ort sehen will, hat vom 17. Juni - 10. September 2023 die Chance dazu: Das Brandenburgische Landesmuseum für moderne Kunst in Cottbus lädt ein zur Ausstellung „Karla Woisnitza. Über Grenzen“. Von Malerei und Zeichnung über Druckgrafik bis hin zu Materialcollage und Installation reicht die Vielfalt von Woisnitzas künstlerischen Ausdrucksformen.  Dabei offenbart sie eine enorme Empfänglichkeit für Literatur (u. a. zu Heinrich von Kleist), die in der vom Kleist-Archiv Sembdner als Leihgabe bereitgestellten Mappe zu „Die Herrmannsschlacht“ ihren Ausdruck findet.

 

Karla Woisnitza, geboren 1952 in Rüdersdorf bei Berlin, studierte 1973-1978 Bühnen- und Kostümbild an der HfBK Dresden. 1991 absolvierte sie ein externes Diplom in Malerei und Grafik. 1994 wurde sie mit dem Käthe-Kollwitz-Preis der Akademie der Künste Berlin ausgezeichnet. 1996 erhielt sie ein Stipendium der Mid-America Arts Alliance in den USA. Seit Beginn ihrer selbständigen künstlerischen Tätigkeit 1979 war die Künstlerin auf über 300 Ausstellungen in Galerien und Museen in Deutschland und international vertreten, zuletzt:  mumok (Wien, 2009), Tate Modern (London, 2012), Centro Cultural Correios, (Rio de Janeiro, 2014) und Sprengel Museum (Hannover, 2017). Ihre Werke befinden sich in der der Staatsbibliothek Berlin, der Kunstsammlung Chemnitz, dem Kupferstichkabinett und Kunstfonds Dresden, dem NMWA (National Museum of Women in the Arts) Washington D.C., und weitere.

 

 

Primärliteratur:

Von Kleist, Heinrich: 20.04.1809: An Heinrich Joseph von Collin [Brief]. Kleist-digital.de. Hrsg. Von Günther Dunz-Wolff. (URL: kleist-digital.de/briefe/152 [Z.50-52], 15.05.2023).

Sekundärliteratur:

Müller-Salget, Klaus: Die Herrmannsschlacht. In: Ingo Breuer (Hg.) Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Sonderausgabe. Stuttgart, Weimar: Metzler 2013. S. 76-79.

Wilk-Mincu, Barbara: Karla Woisnitza. Die Hermannsschlacht von Heinrich von Kleist. Ein Bilderbuch. Heilbronn: Kleist-Archiv Sembdner 2002.

 

April 2023

1994 eröffnete der Literaturkritiker Helmut Koopmann die Jahrestagung der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft mit den Worten: „Kaum ein anderer Dichter hat sich so sehr allen vorschnellen Annäherungsversuchen verschlossen, kaum ein anderer ist in seiner Sprache, ist in seinen Themen unzugänglicher als Kleist […]. Aber kaum ein anderer hat die Kunst der Moderne stärker beschäftigt, als dieser so unzugängliche Kleist […]“ (Helmut Koopmann; zit. n. Breuer 2013: 409). 

Tatsächlich weisen die verschiedenen Arten der Rezeption und Wirkung von Kleists Erzählungen und Bühnenstücken starke Eigendynamiken auf. Bereits im Mai 2022 haben wir mit dem damaligen Objekt des Monats – einer japanischen Übersetzung von Die Marquise von O… – auf die internationale Kleist-Rezeption verwiesen. Dieses Thema wollen wir erneut aufgreifen: Unsere Objekte des Monats sind verschiedene Ausgaben bzw. Übersetzungen von Kleists Das Käthchen von Heilbronn. Wir können hier nur einen kurzen, exemplarischen Einblick in die französische, spanische, dänische und japanische Kleist-Rezeption sowie deren Wirkung geben.

Französische Rezeption

Die Rezeption Kleists in Frankreich kennzeichnet „eine deutliche Verspätung“ (Roussel 2013: 436). Grund hierfür war nicht nur der mangelnde Bekanntheitsgrad Kleists zu seinen Lebzeiten, sondern auch seine nur allmählich zunehmende Repräsentanz in der Literaturgeschichte bzw. der öffentlichen Wahrnehmung. In Frankreich erschien der Name ‚Heinrich von Kleist‘ vermutlich zunächst im Zusammenhang mit den Aufführungen von Das Käthchen von Heilbronn (1810 in Wien) und Amphitryon (1807 in Dresden). Die französische Presse kritisierte Kleists Stücke jedoch als „Beispielfall einer bloßen Imitation französischer Klassiker“ (ebd.: 437). Ihren Eingang in literarisch-kreative Prozesse fanden Kleist und seine Werke in Frankreich erst mit dem existenzialistischen Theater der 1950er-Jahren. (vgl. ebd.: 436f.).

Spanische Rezeption

Die Rezeption Kleists in Spanien ist lange ein noch „weitestgehend unerforschtes Feld“ (Grünewald 2013: 440). Der spanische Germanist Javier Orduña datiert den Beginn einer spanischen Rezeption Kleists auf den Beginn der 1920er-Jahre, als die Novelle Die Marquise von O… zum ersten Mal in spanischer und katalanischer Sprache veröffentlicht wurde (vgl. ebd.). Doch es ist davon auszugehen, dass Kleists Werke einigen Intellektuellen durch französische und italienische Publikationen schon zuvor bekannt waren (vgl. ebd.) So übersetzte der italienische Hispanist und Germanist Arturo Farinelli im Rahmen einer Buchrezension einen Vers aus Kleists Ode An Palafox als Beispiel deutsch-spanischer Empathie während des spanischen Unabhängigkeitskriegs (vgl. ebd.: 440). In den 1930er-Jahre wird die Kleist-Rezeption v. a. von Stefan Zweigs Novelle Der Kampf mit dem Dämon (ab 1934 in spanischer Übersetzung) stark beeinflusst, bleibt aber weiterhin weitestgehend unbeachtet. Parallel zum wachsenden Interesse an Kleist im Rahmen des französischen Theaters der 1950er-Jahre, wurde auch die spanische Öffentlichkeit auf Kleist aufmerksam. So ist es zu erklären, dass im Januar 1954 zum ersten Mal (!) ein Theaterstück Kleists auf die spanische Bühne gebracht wurde: Der zerbrochne Krug.

Dänische bzw. skandinavische Rezeption

Die literarische sowie szenische Kleist-Rezeption verläuft in den skandinavischen Ländern überwiegend parallel (vgl. Vestli 2013: 446). Zwar lässt sich sowohl in Dänemark und Norwegen, als auch in Schweden eine relativ lange Übersetzungstradition nachweisen; eine Bühnenrezeption hingegen fällt überall spärlich aus (vgl. ebd.). Als Dramatiker scheint Kleist in den skandinavischen Ländern kaum zur Kenntnis genommen worden zu sein. Lediglich im Det Kongelige Teater (Kopenhagen) lässt sich von einer gewissen Kleist-Tradition sprechen, da dort bereits zu Beginn des 19.Jhr. Das Käthchen von Heilbronn (1818) und Prinz Friedrich von Homburg (1828) gespielt wurde (vgl. Wartusch 1998). Ein verstärktes Interesse an Kleist als Bühnenautor zeichnet sich in den skandinavischen Ländern seit Anfang der 1990er-Jahre ab (vgl. ebd.: 447).

Japanische Rezeption

Die Geschichte der japanischen Kleist-Rezeption lässt sich – der allgemeinen Rezeption der westlichen Literatur folgend – in drei große Phasen eingliedern (vgl. Manabe/Mandelartz 2013: 450): Die ersten, experimentellen Übersetzungsversuche von westlicher Literatur erscheinen zum Ende des 19. Jahrhunderts (Meiji-Zeit). Nach der Jahrhundertwende (Shôwa-Zeit) liegt eine moderne japanische Literatursprache vor, deren Ausbildung durch die Kleist-Rezeption (vor allem durch Übersetzungen) entscheidend mitbeeinflusst wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg, um 1947, wurde mit Der Zerbrochne Krug erstmals ein Theaterstück Kleists auf die japanische Bühne gebracht (vgl. ebd: 452). Ab den 1990er-Jahren, wohl auch veranlasst durch zahlreiche Neuübersetzungen, setzte eine erneute, intensive Kleist-Rezeption in Japan ein. So spielt Kleist im Roman The Beautiful Annabel Lee was Chilled and Killed (2007) des Literaturnobelpreisträgers Kenzabuô Ôe eine zentrale Rolle (vgl. ebd.: 452).

Im Bestand des Kleist-Archiv Sembdners befinden sich weitere Übersetzungen der Werke Kleists u. a. in niederländischer, italienischer, koreanischer oder griechischer Sprache. Sie alle belegen, dass Kleist und seine Werke, scheinen sie hinsichtlich ihrer Themen und Sprache noch so unzugänglich, in der modernen Literatur und Kultur noch immer gegenwärtig sind und im Interesse einer breiten Öffentlichkeit stehen.

 

 

Weiterführend: Die Übertragung der Werke Kleists ins Ungarische zählt mit zu den umfassendsten Kleist-Übersetzungen. Doch woher kommt die Faszination der ungarischen Leserschaft für Kleists Stücke und Novellen? Der in Budapest geborene Autor und Übersetzer Akos Doma versucht, im Gespräch mit Literaturhausleiter Dr. Anton Knittel dies zu beantworten. Hier geht’s zur neusten Folge unseres Podcasts „Warum Kleist?“

 

Literatur:

Breuer, Ingo: Rezeption und Wirkung. In: Ingo Breuer (Hg.) Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Sonderausgabe. Stuttgart, Weimar: Metzler 2013. S.409.

Grünewald, Heidi: Spanien, Mittel- und Südamerika. In: Ingo Breuer (Hg.) Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Sonderausgabe. Stuttgart, Weimar: Metzler 2013.  S.440-444.

Manabe, Masanori u. Mandelartz, Michael: Japan. In: Ingo Breuer (Hg.) Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Sonderausgabe. Stuttgart, Weimar: Metzler 2013. S. 450-453.

Roussel, Martin: Frankreich. In: Ingo Breuer (Hg.) Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Sonderausgabe. Stuttgart, Weimar: Metzler 2013. S.436-440.

Vestli, Elin Nesje: Skandinavien. In: Ingo Breuer (Hg.) Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Sonderausgabe. Stuttgart, Weimar: Metzler 2013. S.446-447.

Wartusch, Rüdiger: Käthchens Kopenhagener Schwester Maria. Eine Dokumentation der frühesten Kleist-Übersetzung. Vortrag am 14. Juli 1998 in der Stadtbücherei Heilbronn. Heilbronn: Kleist-Archiv Sembdner 1998.

März 2023

Das Käthchen von Heilbronn. Großes historisches Schauspiel in Fünf Acten, u. einem Vorspiel: Das heimliche Gericht. Souf[f]lierbuch. Fürstl[ich] Lipp[isches] Hoftheater. [Detmold 1842]. „36 Bogen“ (277 beschriebene Seiten) von Schreiberhand. Handschrift einer von Helmut Sembdner als „Detmolder ‚Käthchen von Heilbronn‘“ eingeordneten unbekannten Bühnenfassung. Dazu Faksimile-Edition von Helmut Sembdner.

 

„Das Käthchen von Heilbronn“ und „Der zerbrochne Krug“ gehören zu den meistgespielten Bühnenstücken von Heinrich von Kleist. Zusammen mit der Erzählung „Michael Kohlhaas“ zählen beide zu den bekanntesten Werken Kleists. Kleists „Käthchen von Heilbronn“ war im Unterschied zu anderen seiner Bühnenstücke - nicht zuletzt aufgrund der späteren Bearbeitungen von Franz von Holbein und durch die Inszenierungen der Meininger – bereits im 19. Jahrhundert ein regelrechter Kassenschlager.

Im „Käthchen“ fährt Kleist alles auf, was die Theaterbühne zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu leisten imstande war: ein geheimnisvolles Femegericht, Ritterkämpfe, ein brennendes Schloss, einen Cherub, dazu Intrigen, einen Giftanschlag und eine Unmenge vertauschter Briefe. Das „Käthchen von Heilbronn“ gleicht einer rätselhaften Melange aus literarischen und stoff- sowie motivgeschichtlichen Bezügen. Das Stück scheint sowohl (historisches) Ritterschauspiel, als auch Märchen, volkstümliche Legende und Parodie zu sein – gleichzeitig sträubt sich das Drama gegen eine eindeutige Gattungszuschreibung.

Die Zwiespältigkeit, ob Kleists Grundintention beim Schreiben als parodistisch oder ernst einzustufen sei, kennzeichnet noch heute die einschlägige Forschungsliteratur (vgl. Lü 2013: 74). Dabei ist anzumerken, dass sich diese Zwiespältigkeit nur auf die Buchausgabe bezieht. Wann Kleist genau mit der Arbeit am „Käthchen“ begann, ist unklar. Ein Brief an den Verleger Cotta im Sommer 1808, dass bereits eine vollständige Fassung des Textes vorliege, legt nahe, dass Kleist spätestens im Herbst 1807 mit den Arbeiten am „Käthchen“ begann. Das fertige Manuskript erhielt Cotta jedoch erst am 12. Januar 1810. Einzelne Text-Fragmente ließ Kleist schon im April/Mai-Heft 1808 bzw. dem September/Oktober-Heft 1809 in seiner Zeitschrift „Phöbus“ abdrucken (vgl. ebd.: 71).

Um das „Käthchen“ überhaupt auf die Bühne bringen zu können, bearbeitete und kürzte Kleist den Text mehrfach rigoros – nicht zuletzt der „ausufernden Rhetorik“ der Reden Theobalds und des Grafens wegen (vgl. ebd.). In einem brieflichen Kommentar an Marie von Kleist (wahrscheinlich im Mai 1811) schreibt Kleist: „Das Urtheil der Menschen hat mich bisher viel zu sehr beherrscht; besonders das Käthchen von Heilbronn ist voll Spuren davon. Es war von Anfang herein eine ganze treffliche Erfindung, und nur die Absicht, es für die Bühne passend zu machen, hat mich zu Mißgriffen verführt, die ich jetzt beweinen mogte.“ Welche Aspekte der finalen Fassung Kleist im Rückblick jedoch als „Missgriffe“ erschienen sein mögen, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren (vgl. ebd.: 72).

Die Uraufführung der bearbeiteten Fassung des „Käthchens“ erfolgte am 17. März 1810 im Theater an der Wien. Waren Kleists Stücke für gewöhnlich keine Straßenfeger, verhielt es sich beim „Käthchen“ anders. Etliche Postkarten, Papiertheater, Opern, Gemälde und nicht zuletzt die Repräsentationsfigur von Heilbronn selbst zeigen, wie sehr die Figur des Käthchens das zeitgenössische Publikum berührte. Kleists literarische Zeitgenossen blieben dennoch skeptisch: Goethe soll das Stück angeblich ins Feuer geworfen haben, da es ein „wunderbares Gemisch aus Sinn und Unsinn“ sei, das er keinesfalls in Weimar aufführen werde.

Unser Objekt des Monats März, das Soufflierbuch der Detmolder Käthchen-Fassung von 1842, ist nicht nur ein Stück Theatergeschichte, sondern auch Teil der Rezeptionsgeschichte des „Käthchens von Heilbronn“. Auch heute wird das Stück in verschiedenen Inszenierungen noch immer auf die Bühne gebracht; etwa von der Regisseurin Elsa-Sophie Jach am Residenztheater München (UA, 2022).

 

Weiterführend:Im Podcast „Warum Kleist?“ spricht Elsa-Sophie Jach mit Literaturhausleiter Dr. Anton Knittel über ihre Kleist-Inszenierungen und wieso sie in Käthchen ein Alter Ego Kleists sieht.

Ferner erhalten Sie im Kleist-Archiv Sembdner eine Reihe von Publikationen zu Heinrich von Kleist, dem „Käthchen von Heilbronn“ uvm.

 

 

Literatur:

Lü, Yixu: Das Käthchen von Heilbronn. In: Ingo Breuer (Hg.) Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Sonderausgabe. Stuttgart, Weimar: Metzler 2013. S. 67-76.

Februar 2023

Heinrich von Kleist und der jüdische Geschichtsschreiber

„Prinz Friedrich von Homburg oder die Schlacht bei Fehrbellin“ ist Heinrich von Kleists letztes Drama. Obwohl er die Uraufführung nicht mehr miterlebte, stieß dieses Werk (wie auch seine anderen) bei den Zeitgenossen auf wenig Resonanz bzw. auf Auflehnung. Vor allem die enthaltene Todesfurchtszene des Prinzen (3. Akt, 5. Aufzug) galt lange als nicht bühnentauglich, da sie nicht ins männliche Soldatenbild Preußens passte. Erst zehn Jahre später, am 03. Oktober 1821, wurde eine zensierte Version des Stückes im Wiener Burgtheater unter der Regie von Josef Schreyvogel uraufgeführt – um bereits nach vier Wiederholungen auf Betreiben des Erzherzogs Karl abgesetzt zu werden.

Wann genau Heinrich von Kleist mit der Arbeit an „Prinz Friedrich von Homburg“ begonnen hatte, ist nicht überliefert. Dem Eintrag im Entleihbuch der Königlichen Bibliothek Dresden zufolge hatte er vom 09. Januar bis zum 01. März 1809 das Geschichtsbuch des preußischen Feldpredigers Karl Heinrich Krause „Mein Vaterland unter den hohenzollerischen Regenten“ entliehen. Spätestens ab diesem Zeitpunkt dürfte Kleist mit den Recherchen für sein Drama begonnen haben (vgl. Hamacher 2013: 80). Auch das Objekt des Monats ist Teil des Entstehungskontexts von Kleists letztem Drama:

Johann Friderich Cotta (Hg.): Des Fuertrefflichen Juedischen Geschicht-Schreibers Flavii Josephi saemtliche Wercke. Tübingen: Cotta 1736.

Unmittelbar zuvor, vom 19. Dezember 1808 bis 02. Januar 1809 hatte Kleist „Josephi Werke“ aus der Königlichen Bibliothek Dresden in einer Ausgabe von 1736 entliehen (vgl. Hamacher: 81).

Der Bericht des jüdischen Geschichtsschreibers Flavius Josephus (37-110 n. Chr.) fasst den Jüdischen Krieg und die Zerstörung Jerusalems durch Titus (39-81 n. Chr., Sohn von Kaiser Vespasian) zusammen. Da die Darstellung der Befehlsverweigerung mehrerer römischer Soldaten beim Kampf um die Eroberung Jerusalems sowie die Strafrede Titus‘ an seine Soldaten, Parallelen zu Kleists Behandlung des Normkonflikts aufweist, könnte es sich bei Titus um ein historisches Substrat des Kurfürsten Friedrich Wilhelm in Kleists Drama handeln (vgl. ebd.).

Darüber hinaus beschäftigt sich Kleist wenig mit dem Werk des Jüdischen Geschichtsschreibers, was gleichermaßen bezeichnend ist für sein Gesamtwerk: In seinen Werken und Briefen hat sich Kleist an keiner Stelle explizit über das Judentum bzw. über Jüdinnen und Juden geäußert. Auch bedient er in seinen Werken keine antisemitischen Klischees, sondern zitiert positiv Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Weise“. Dennoch nimmt Kleist an Treffen der antisemitischen „Deutschen Tischgesellschaft“ teil und somit bleibt Kleists Verhältnis zum Judentum bestenfalls ambivalent.

Auch das Literaturhaus Heilbronn hat sich dieser Frage angenommen und den renommierten Kleist-Forscher Dr. Ingo Breuer am 22. September 2021 eingeladen, im Rahmen der Veranstaltungsreihe „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ über „Kleist und das Judentum seiner Zeit“ zu sprechen.

Das Kleist-Archiv Semdner präsentiert im Februar eine zeitgenössische Ausgabe eben jenes Werkes, das auch Heinrich von Kleist für sein letztes Drama zu Recherchezwecken nutzte, und das somit Teil der Entstehung- und Quellengeschichte der Kleist-Forschung ist.

 

Weiterführende Literatur:

Cotta, Johann Friderich (Hg.): Des Fuertrefflichen Juedischen Geschicht-Schreibers Flavii Josephi Saemtliche Wercke. Als Zwanzig Buecher von den alten Juedischen Geschichten, Eines von seinem Leben, Zwey von dem alten Herkommen der Juden wider Apionem Grammaticum/ und Eines von dem Maertyrer Tode der Maccabaeer, Nebst einem Uberbleibsel. Der Rede Josephi an die Griechen von dem Ort, wo sich die abgeschiedene Seelen aufhalten, und der Auferstehung der Todten. Hierzu kommen ferner dessen Sieben Buecher von dem Krieg der Juden mit den Roemern/ und Egesippi Fuenff Buecher von der Zerstoerung der Stadt Jerusalem. Tübingen: Cotta 1736.

Hamacher, Bernd: „Prinz Friedrich von Homburg“. In: Breuer, Ingo (Hg.): Kleist Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler 2013. S.80-89.

„Michael Kohlhaas“ und acht weitere Werke von und zu Kleist in Brailleschrift

Das Kleist-Archiv Sembdner ist Heilbronns kulturelles Kleist-Gedächtnis. Mehr als 10 000 Schriftstücke, Videos, Filme, Zeitungsausschnitte und Kunstobjekte zu Kleist und seinen Werken sind darin erfasst und erhalten.

Die meisten dieser Schriftstücke sind in der gängigen Schwarzschrift verfasst und gedruckt, d. h. schwarze Schrift auf weißem Grund. Doch nicht alle sind in der Lage, diese Schrift zu lesen. Menschen mit einer (starken) Sehbeeinträchtigung können Schwarzschrift oft nur sehr schwer oder gar nicht lesen. Abhilfe schafft hier die von Louis Braille (1809-1852) erfundene Brailleschrift; eine von hinten in das Papier gepresste Blindenschrift, die mit den Fingerspitzen ertastet und dadurch gelesen werden kann.

Anlässlich des 4. Januars – dem seit 2001 gefeierten „Welt-Braille-Tag“ – sowie des 23. Januars – dem internationalen Tag der Handschrift – stellt das Kleist-Archiv Sembdner gleich mehrere Objekte vor:

Sieben in Brailleschrift gedruckte Werke von Kleist – „Die Marquise von O.“, „Michael Kohlhaas“, „Der zerbrochene Krug“, „Amphitryon“, „Penthesilea“, „Prinz Friedrich von Homburg“ und „Das Bettelweib von Locarno“ – sowie die Monographie „Heinrich von Kleist“ von Peter Staengle – sind im Kleist-Archiv Sembdner erfasst.

Die Herstellung solcher Bücher ist aufwendig. In Deutschland werden von fünf Verlagen jährlich etwa 500 Bücher in Brailleschrift übertragen und gedruckt. (Zum Vergleich: Mehrere zehntausend Titel in Schwarzschrift erscheinen jährlich auf dem deutschen Buchmarkt.)

Darunter finden sich auch Kleists Novellen und Dramen, die so für Menschen mit Sehbeeinträchtigung zugänglich werden.

2022

Heinrich Zschokke: Der andere zerbrochene Krug

 

Hat Kleist seinen ‚Krug‘ bei Zschokke kopiert?

Dies titelte das Schweizer Tagblatt am 22. Februar 2022, als in Aarau Heinrich von Kleists Lustspiel „Der zerbrochne Krug“ vom Theater Kanton Zürich unter der Regie von Elias Perrig aufgeführt wurde.

Der Artikel verweist auf den bis zu seinem Tod 1848 in Aarau lebenden Schriftsteller, Publizisten und Politiker Johann Heinrich Daniel Zschokke, der in Kleists Leben eine kurze, aber nicht unwichtige Rolle spielte. Obwohl Zschokke zu den meistgelesenen und einflussreichsten Autoren des 19. Jahrhunderts zählt, ist seine Erzählung „Der zerbrochene Krug“ weit weniger bekannt, als Kleists Komödie „Der zerbrochne Krug“. Obwohl sie zudem erst 1813 veröffentlicht wurde – zwei Jahre nach Kleists Tod – haben beide Werke einen gemeinsamen Ursprung:

Im Frühjahr 1802 besuchten Heinrich von Kleist, sein Dichterfreund Ludwig Wieland und der Verleger Heinrich Geßner Zschokke in seiner damaligen Wohnung in Bern. In dessen (Wohn-)Zimmer hing ein Abdruck des Kupferstichs „Le juge ou la cruche cassée“ des französischen Künstlers Jean Jacques Le Veau (1729-1785). Dieser zeigt, so Zschokke, ein trauriges Liebesprächen, eine keifende Mutter mit einem zerbrochenen Majolika-Krug, und einen großnasigen Richter.

Der Kupferstich soll schließlich zu einem Wettstreit unter Freunden geführt haben. Zschokke selbst erinnert sich in der Vorrede seiner Erzählung:

„Die ausdrucksvolle Zeichnung belustigte und verlockte zu mancherlei Deutungen des Inhalts. Im Scherz gelobten die Drei, jeder wolle seine eigenthümliche Ansicht schriftlich ausführen. Ludwig Wieland verhieß eine Satire; Heinrich von Kleist entwarf sein Lustspiel, und der Verfasser gegenwärtiger Erzählung das, was hier gegeben wird“ (Zschokke: 231).

Ob dieser prosaisch anmutende Dichterwettstreit, den Kleist nach Zschokkes Einschätzung letztlich gewann, tatsächlich Entstehungsmoment von Kleists berühmtem Lustspiel war, darf jedoch angezweifelt werden (vgl. Roland Reuß: 421). Einerseits fügt Zschokke seine Vorrede erst 1825, also zwölf Jahre nach der Ersterscheinung, seiner Erzählung hinzu und übergeht dabei völlig Heinrich Geßner. Kleist selbst spricht in der Vorrede zu seinem Lustspiel, die es nur in der handschriftlich überlieferten Fassung des Stücks gibt, lediglich von einem Kupferstich, den er in der Schweiz gesehen hatte, als eigentliche Inspiration und erwähnt dabei weder Zschokke noch Wieland oder Geßner.

Zum Jahresende hin verweisen wir auf diesen anderen „Zerbrochenen Krug“ von einem Weggefährten Kleists. Die Erzählung „Der zerbrochene Krug“ von Johann Heinrich Daniel Zschokke ist Teil der im Kleist-Archiv Sembdner archivierten 5. Original-Auflage ausgewählter Novellen und Dichtungen von Zschokke, erschienen 1841 in Aarau.

 

Johann Heinrich Daniel Zschokke wurde 1771 in Magdeburg geboren. Er studierte Theologie und Philosophie in Frankfurt an der Oder. Nach ausgedehnten Reisen durch Deutschland, Frankreich und in die Schweiz ließ er sich 1798 in Aarau nieder. Zschokke übte dort verschiedene Ämter für die Helvetische Regierung aus. Sein umfangreiches schriftstellerisches Werk umfasst auch eine Vielzahl von Veröffentlichungen zu politischen, historischen, pädagogischen und naturwissenschaftlichen Themen. Zschokke starb 1848 in Aarau und gilt als einer der meistgelesenen und einflussreichsten deutschsprachigen Autoren des 19. Jahrhunderts.

 

 

Weiterführende Literatur:

Bart, Ilse-Marie u. Seeba, Hinrich C. (Hg.): Heinrich von Kleist. Dramen 1802-1807. Die Familie Ghonorez, Die Familie Schroffenstein, Robert Guiskard, Der zerbrochne Krug, Amphitryon. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1991. (=Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe. Bd.1).

Breuer, Ingo (Hg.): Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Sonderausgabe. Stuttgart, Weimar: Metzler 2013.

Dunz-Wolff, Günter (Hg.): Heinrich von Kleist. Der zerbrochne Krug, ein Lustspiel. Textkritische Edition der Handschrift. Berlin: J. B. Metzler 2020. (=Sonderband des Kleist-Jahrbuchs 2020).

Reuß, Roland (Hg.): Der zerbrochne Krug. Band I/3. Der zerbrochne Krug <Handschrift>. (=H. v. Kleist. Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe).

https://www.tagblatt.ch/kultur/ohne-zschokke-kein-kleist-ld.2254770

Hanif Lehmann: „vor Kleists grab“

„Eine Viertelstunde verstand ich vor Kleists grab: doch was verstehe ich? – nichts –“ – Hanif Lehmann

Heinrich von Kleists Leben und Werk sind bekanntermaßen in vielerlei Hinsicht voller Rätsel. Es beginnt schon mit dem genauen Geburtsdatum: Nach eigenen Angaben wird Kleist am 10. Oktober 1777 in Frankfurt (Oder) geboren. Laut Eintrag im Kirchenbuch ist sein Geburtstag jedoch der 18. Oktober. Nach einem rastlosen Leben voller Auf- und Abbrüche nimmt er sich mit 34 Jahren am Kleinen Wannsee in Berlin gemeinsam mit der an Krebs erkrankten Henriette Vogel, mit der er seit ein paar Monaten in enger Verbindung steht, das Leben. Heute, am 21. November, jährt sich sein Todestag zum 211ten Mal.

Seinen Zeitgenossen gilt Kleist als Sonderling, als literarischer Außenseiter, als Unzeitgemäßer - eine Rolle, die er konsequenter Weise bis in den Tod ausfüllt: Denn der sogenannte Doppelselbstmord Kleists schließt eine Beisetzung innerhalb der Friedhofsmauern aus, weshalb neben Leben und Werk des Ruhelosen und Vormodernen vor der Moderne bis heute auch sein Tod und seine letzte Ruhestätte am Kleinen Wannsee im Fokus des Interesses stehen.

Und kaum verwunderlich ist überdies, dass auch Kleists Grab eine wechselvolle Geschichte hat. So ist bis heute u. a. nicht abschließend geklärt, ob das Grab nachträglich versetzt wurde. Die viele Jahre stark verwilderte Grabanlage wurde 2011 zum 200sten Todesjahr samt Grabstein neugestaltet.

Die Kleist-Rezeption ist breit gefächert. Ob in Literatur, auf Theaterbühnen, im Film, in der Musik oder in der Bildenden Kunst, um nur einige Bereiche zu nennen: Leben und Werk faszinieren genauso wie Kleists „letzte Inszenierung“ (Günter Blamberger) am Kleinen Wannsee. So etwa den Grafiker und Maler Hanif Lehmann, der nicht nur eine Kaltnadelradierung von Kleists Grab anfertigte, sondern seine Eindrücke beim Besuch des Grabes auch in einem Gedicht festhielt.

Anlässlich Kleists 211. Todestag weisen wir im November auf diese Facette der Kleist-Rezeption hin.

Der in der ehemaligen DDR geborene Künstler Hanif Lehmann hat 2017 einen Zyklus von 9 Kaltnadelradierungen zu Berliner Dichtergräbern angefertigt, die von zum Teil eigenen Texten begleitet werden. Die hier gezeigte Kaltnadelradierung sowie das Gedicht zu Kleists Grab sind heute im Kleist-Archiv Sembdner archiviert.

 

Hanif Lehmann wurde 1971 in Rochlitz geboren. Von 1992 bis 1998 studierte er Malerei und Grafik. 1994 erschien sein erstes Grafikbuch; 1996 folgte das zweite im eigenen Verlag widukind-presse Dresden. Seit 1998 arbeitet Lehmann als freischaffender Künstler. Seine Arbeiten befinden sich u. a. in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, im Deutschen Literaturarchiv Marbach, im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, in der SLUB Dresden – und im Kleist-Archiv Sembdner.

Karl Hütter: „Das Vehmgericht des Mittelalters“ – Die Feme im Mittelalter

Die Femegerichte waren ein Organ der mittelalterlichen Strafjustiz, unter anderem auf dem Gebiet des heutigen Deutschland. Ihnen oblag auch die Umsetzung der Strafe. Der Begriff entwickelte sich im 13. Jahrhundert aus der veme, einer „Vereinigung oder ein Bund der zum gleichen Gericht gehörenden Freien“. Die Berechtigung zur Urteilssprechung wurde direkt vom König übertragen, dem die eigentliche Rechtssprechung oblag. Nicht immer wurden bei einem Femegericht die Todesstrafe ausgesprochen, auch eine finanzielle Schuldbegleichung konnte angestrebt werden.

In der Zeit um 1800 gewann mit der Romantik die Begeisterung für das europäische Mittelalter auch die mittelalterliche Gerichtsbarkeit an Aufmerksamkeit – so begannen beispielsweise die Brüder Grimm vor ihrer Sammeltätigkeit damit, sich mit der mittelalterlichen Rechtsprechung auseinanderzusetzen. Auch Heinrich von Kleist war fasziniert von dieser historischen Form des Rechts, auf welches er für sein „romantisches Schauspiel“, das Käthchen von Heilbronn (1808) zurückgriff. Es ist dabei nicht unwahrscheinlich, dass er auch auf Karl Hütters Überblick zum Femegericht aus dem Jahr 1793 zurückgriff.

Kupferstich von Napoleon Bonaparte – Kleist und Napoleon

Niemand hat den politischen, philosophischen und poetischen Diskurs der Zeit um 1800 wohl so beeinflusst wie Napoleon. Der Korse, dessen militärische und politische Laufbahn als Revolutionsgeneral begann und der am Höhepunkt seiner Macht beinahe ganz Europa beherrschte und umformte, polarisierte die damalige geistige Elite. Vor 1804 ist Napoleon noch nicht Nationalfeind der Deutschen, sondern „nur“ Revolutionsbeender oder innenpolitischer Despot. Görres bezeichnete ihn schon um 1800 als neuen „Augustus“, womit er durchaus Recht behielt, wie die Selbstkrönung zum Konsul auf Lebenszeit im Jahr 1804 zeigte.

Gerade die Romantiker sahen anfangs stärker die positiven Aspekte, die mit Napoleon kamen. Napoleons Büste zierte die Arbeitszimmer Ludwig Tiecks sowie der Brüder Schlegel. In Preußen wird deutlich schneller Kritik an Napoleon geübt als in den Rheinbundstaaten. So hält der Philosoph Johann Gottlieb Fichte im Jahr 1808 seine Reden an die deutsche Nation, in denen er zum Widerstand gegen Napoleon und die französischen Besatzer aufruft.

Exemplarisch in seinem Verhältnis zu Napoleon ist auch Heinrich von Kleist. Während große Dichter wie Wieland oder Goethe offen ihre Bewunderung für die Ausnahmeerscheinung Napoleon zeigen (Napoleon war umgekehrt ein großer Verehrer des Dichters der Leiden des jungen Werther), versucht Kleist agitatorisch gegen die französische Besatzung unter Napoleon vorzugehen. Im Jahr 1809 entsteht sowohl sein Katechismus der Deutschen als auch das Drama „Die Hermannschlacht“, in dem er zwar einerseits gegen die Römer (im Umkehrschluss auf die romanischen Franzosen) Stimmung macht, andererseits aber die Mittel der Propaganda des schonungslos machiavellistisch agierenden Hermann offenlegt.

Am Ende erlebte Kleist den Wendepunkt der Herrschaft Napoleons mit dem gescheiterten Russlandfeldzug 1812 nicht mehr.

Weiterführende Literatur: Barbara Beßlich: Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung 1800–1945. Darmstadt 2007.

Sieben Zeichnungen von Walter Maisak (1912-2002) zu Heinrich von Kleists Erzählung „Michael Kohlhaas“

Gastbeitrag von Petra Maisak

Petra Maisak, promovierte Kunsthistorikerin und Germanistin, war langjährige Leiterin des Goethehauses und der Kunstsammlungen am Frankfurter Goethe-Museum. Sie legte zahlreiche Publikationen zu Kunst und Literatur insbesondere des 18. und 19. Jahrhunderts vor. Als einzige Tochter des Künstlers Walter Maisak betreut sie dessen Nachlass im privaten Walter Maisak Archiv in Heilbronn.

 

Gleich im ersten Satz stößt Kleist zum verstörenden Kern seiner Erzählung vor, wenn er den Pferdehändler Kohlhaas einen „der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“ nennt. Die grundlegende Problematik von Gerechtigkeit und Gewalt, die Kleists Werk durchzieht, bestimmt das Geschehen, das aus dem Machtmissbrauch der Herrschenden resultiert. Sein fanatisches Rechtsgefühl macht Kohlhaas, den geachteten Bürger und Familienvater, zum Rebellen und Mordbrenner, den eine schicksalhafte Verkettung unglückseligster Umstände aufs Schafott bringt. Die Geschichte spielt im 16. Jahrhundert, im aufrührerischen Zeitalter der Reformation und der Bauernkriege, in der Epoche Götz von Berlichingens und Martin Luthers, der sogar in die Handlung eingreift.

Vor dieser historischen Folie hat sich ein Vorstellungsbild von Michael Kohlhaas entwickelt, das ein Äquivalent in den kantigen, kernigen Gestalten von Lucas Cranach d. Ä. erhält. Von Cranach, dem Maler der Reformationszeit, stammt das ikonische  Porträt Luthers als Junker Jörg, mit kämpferisch hochgerecktem Kinn, kurzem, eckigem Vollbart und sinnend in die Ferne gerichtetem Blick. Dieser Typus, kombiniert mit Szenen aus den Bauernkriegen, hat eine ganze Reihe von Kohlhaas-Darstellungen in der Kunst, auf der Bühne und im Film inspiriert: von Franz Stassens romantisierenden Illustrationen der Erzählung (Verlag G. Westermann, 1924) bis hin zu Volker Schlöndorffs Film „Michael Kohlhaas – der Rebell“ (1969). Letztlich gehört auch das Titelbild der Erzählung in der Wehrmachts-Ausgabe der Soldatenbücherei Nr. 39 dazu, das allerdings pseudo-historisch verkitscht wird.

Dagegen versucht Walter Maisak in seinen Zeichnungen die charakteristische Ikonographie des Michael Kohlhaas herauszukristallisieren, ohne die historisierende Komponente in den Vordergrund zu stellen. Die kleinen Darstellungen entstanden 1943, als Maisak als Kartenzeichner der Korpskartenstelle beim Festungskommandanten der Wehrmacht in Feodossija auf der Krim stationiert war; wenig später wurde die deutsche Besatzung von der Roten Armee vertrieben. Inmitten des realen Kriegs gewann die Erzählung eine neue Dimension, die den Zeichner zur Auseinandersetzung anregte. Die beiden Kopfstudien lassen sich als einfühlsames Psychogramm lesen, das den tiefen inneren Zwiespalt des Protagonisten zum Ausdruck bringt. Die Szene, die mit leichten, abstrahierenden Federstrichen den Pferdehändler Kohlhaas mit seiner Koppel vor dem Schlagbaum der hoch im Hintergrund aufragenden Tronkenburg zeigt, könnte als Titelbild der Erzählung gedacht sein. Sehr authentisch wirkt die winzige Skizze mit Kohlhaas unter einer Trauerweide, wie er melancholisch über sein unbegreifliches Schicksal nachzusinnen scheint. Die übrigen Skizzen – Kohlhaas greift zum Schwert, ein aufständischer Bauer zur Sense; ein Junker wird vom Volk bedroht–  umspielen die Erzählung in lockerer Form.

Anlässlich einer Ausstellung zu seinem 85. Geburtstag in der Heilbronner Stadtbücherei überließ der Künstler die Zeichnungen 1997 dem Kleist-Archiv Sembdner als Schenkung.

 

Ergänzende Literatur:

Barthel, Wolfgang: Heinrich von Kleists „Michael Kohlhaas“ (1808-1810). Werden und Wirkung. Facetten. Bei Gelegenheit der Ausstellungseröffnung am 31. August 1993 in der Stadtbücherei Heilbronn. 1993

Maisak, Petra: Illustrationen zu Michael Kohlhaas von Walter Maisak, in: Heilbronner Kleist-Blätter, hrsg. vom Kleist-Archiv Sembdner, Heilbronn 1998, Heft 4, S. 61-71

 

Drei Briefe von Louise von Zenge an den Philosophen David Theodor Suabedissen

Briefe aus dem Umfeld um Heinrich von Kleist haben immer einen besonderen Wert, ob Sie nun an Kleist selbst gerichtet sind oder – wie die drei Briefe von Luise von Zenge, der Schwester von Kleists kurzzeitiger Verlobten, Wilhelmine von Zenge, an den Philosophen David Theodor Suabedissen (1773 – 1835) – nur indirekt mit dem Dichter zu tun haben. Im Kleist-Archiv Sembdner befinden sich die drei Briefe aus den Jahren 1814 bis 1828, die einigen Aufschluss über die den meisten recht unbekannte Luise geben. Sie hatte Ludwig Tieck für die ersten Kleist-Ausgaben (1821 und 1826) immerhin einige Informationen über den schon über zehn Jahre verstorbenen Kleist verschafft.

Wilhelmine (1780 – 1852) und Luise von Zenge (1782 – 1855) – von Wilhelmine auch „goldne Schwester“ genannt – stammen aus der Familie von Charlotte Margarete und August Wilhelm von Zenge. Letzterer diente als Generalmajor in Frankfurt an der Oder. Wilhelmine ist von 1800 bis Mai 1802 mit Kleist verlobt, der die Verlobung aber aus der Schweiz brieflich löst. Wilhelmine heiratete schon kurz danach den Philosophen und Nachfolger Kants in Königsberg, Wilhelm Traugott Krug (1770 – 1842). Luise blieb zeitlebens unverheiratet. Die eher private Dinge thematisierenden Briefe von Luise an Suabedissen erwähnen Kleist mit keiner Silbe – und zeigen damit, dass Kleist in den Jahren nach seinem Tod anscheinend ein Tabuthema war.

Das Kleist-Archiv Sembdner erwarb die Briefe im Winter 1996.

Weiterführende Literatur: Rüdiger Wartusch: Luise von Zenge und ihr Kreis. Drei Briefe an den Philosophen Suabedissen. In: Heilbronn Kleist-Blätter Nr. 3 (1997). S. 18–33.

Hans Bellmer: "Les Marionettes." Elf Radierungen nach Kleists Erzählung „Das Marionettentheater“

Die Mappe des Künstlers Hans Bellmer (1902-1975) mit elf Radierungen zu Kleists Erzählung „Das Marionettentheater“ zeigt keine bloßen Illustrationen des Textes. Der äußerst komplizierte und mit vielen poetologischen und philosophischen Anknüpfungspunkten versehene Text Kleists aus dem Jahr 1810 wird vielmehr zum Ausganspunkt für Bellmers eigene Gedanken zum menschlichen Körper und seiner surrealistischen Variation in Form von beispielsweise Demontage.

„Bellmers ‚Marionetten‘ verkörpern einen lebendigen Organismus, der nicht die tote, mechanisch funktionierende Gliederpuppe als solche, sondern ihre sensomotorische Mobilität zum Thema erhebt.“*

Bellmer hatte sich schon vor der Entstehung des Radierzyklus’ im Jahr 1969 intensiv mit Puppen und Marionetten auseinandergesetzt. Ein wichtiger theoretischer Anknüpfungspunkt war dabei für ihn E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“ sowie Sigmund Freuds Studie über „Das Unheimliche“.

Die Mappe mit Bellmers Radierungen ist Eigentum der Kulturstiftung der Kreissparkasse Heilbronn und befindet sich als Dauerleihgabe im Kleist-Archiv Sembdner. Im Jahr 1999 war sie zuletzt im Rahmenprogramm der Heilbronner Tagung „Erotik und Sexualität im Werk Heinrich von Kleists“ in einer Ausstellung in der Kreissparkasse gezeigt.

Hans Bellmer zählt zu den Vertretern des phantastischen Realismus. Er hörte Anfang der 1930er Jahre Vorlesungen am Bauhaus, reiste danach aber nach Italien und Tunesien. 1933 gab er aus Ablehnung des Faschismus seine künstlerische Tätigkeit vorübergehend auf. Stattdessen konstruierte Bellmer erotische Puppenplastiken. Photographien davon wurden in der französischen Surrealisten-Zeitschrift „Le Minotaure“ veröffentlicht und seitdem gehörte Bellmer den Pariser Surrealisten an. Er fertigte von nun an vor allem Zeichnungen im individuellen figurativen Stil. In der bespielte Bellmer seine ersten Einzelausstellungen und internationalen Gruppenschauen mit den Surrealisten und wurde als 'Dürer des Surrealismus' bezeichnet. Sein Spätstil zeigt filigrane Linien und die Erotik vervielfältigt sich durch die Verschmelzung von Todessehnsucht und dem Lustprinzip. Die Darstellung des Obszönen in Bellmers Werk ist als seine Auflehnung gegen gesellschaftliche Zwänge, Rationalität und Zeitmoral zu verstehen. Sein künstlerischer Einfluß ist besonders bei Paul Wunderlich und Horst Janssen spürbar.

 

* Peter Gorsen: Jenseits der Anatomie. Marionette und Übermensch im Werk von Hans Bellmer und Heinrich von Kleist. In: Heilbronner Kleist-Blätter 14 (2003). S. 123-142, hier S. 131.

Heinrich von Kleist: Die Marquise von O. auf Japanisch 

Das Kleist-Archiv Sembdner enthält neben Erstausgaben und vielen anderen Rezeptionszeugnissen auch Übersetzungen der Werke Kleists. Recht früh wurden Kleists Werke in andere Sprachen übersetzt, so in den 1830er Jahren ins Italienische, ins Französische (die berühmte Kulturvermittlerin Madame de Stäel schreibt angeregt durch Kleists Selbstmord etwa eine „Abhandlung über den Suizid“). In England wird Kleist relativ spät rezipiert, was auch auf die Ablehnung durch den damaligen englischen Literatur-Giganten Samuel Taylor Coleridge zurückzuführen ist. Erst in der Mitte des Jahrhunderts gibt es die ersten Übersetzungen von Kleists „Michael Kohlhaas“. Ab den 1890er Jahren wird Kleist auch ins Russische übersetzt – vergleichsweise spät, wenn man an die rege wechselseitige Beeinflussung von russischer und deutscher Literatur im 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert denkt. Interessant ist die Rezeption Kleists in Japan. Erste Übersetzungen erscheinen hier am Ende des 19. Jahrhunderts, Kleist ist ab der Jahrhundertwende aber bereits Teil des Rezeptionskanons. Dort spielte die Rezeption Kleists (in Übersetzungen und Adaptionen im Theater) eine nicht unbedeutende Rolle in der Ausbildung der japanischen Literatursprache, die bis dahin stark vom Chinesischen beeinflusst war.

So sind neben Übersetzungen auch in niederländischer, polnischer, dänischer, griechischer oder türkischer Sprache auch diverse Ausgaben von Kleist-Werken in Japanischer Sprache Teil des Kleist-Archivs Sembdner und ein  Beleg dafür, dass Kleist im wahrsten Sinne des Wortes „Weltliteratur“ geworden ist.

Einen einführenden Überblick gibt das „Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung.“ Hrsg. v. Ingo Breuer. Stuttgart 2013.

April

April: 2. Auflage des „Amphitryon“ (1818) von Heinrich von Kleist

2022 jährt sich zum 400. Mal der Geburtstag des französischen Dichters und Schauspielers Jean-Baptiste Poquelin alias Molière, der als Komödiendichter in die Weltliteratur eingegangen ist. Eins seiner komischsten Stücke, das auf die Tragikomödie Amphitruo von Plautus zurückgehende Stück „Amphitryon“, war wiederum die Vorlage für Heinrich von Kleist, der seinen „Amphitryon“ im Jahr 1803 in Dresden schrieb und 1807 im Druck veröffentlichte. Das zunächst als reine Übersetzung von Molières Stück geplante Schauspiel nahm schon bald eine eigene Richtung und Kleist gab der Handlung einen tragischen Unterton. Die Identitätskrise Amphitryons ist bei Molière in dieser Form nicht angelegt und ist der Fokus des selbst immer nach Identität und Zugehörigkeit ringenden Kleist.

Nachdem Kleist das Stück im Jahr 1803 geschrieben hatte, dauerte es weitere vier Jahre, bis er mit seinem Freund und späteren Mitherausgeber der Zeitschrift „Phöbus“, Adam Müller, einen Verleger fand, der das Buch 1807 in der Arnoldischen Buchhandlung in Dresden publizierte. Elf Jahre später erschien eine neue „wohlfeilere“ Ausgabe der Tragikomödie im selben Verlag, erneut herausgegeben von dem mittlerweile dem Metternich’schen Stab als österreichischer Generalkonsul angehörenden Adam Müller.

Unter anderem diese Ausgabe ist Bestand des Kleist-Archivs Sembdner und unser Objekt des Monats.

Kleist selbst erlebte keine Aufführung des „Amphitryon“, da das Schauspiel erst im Jahr 1899 im Neuen Theater in Berlin uraufgeführt wurde. Bis heute erfreuen sich Inszenierungen sowohl von Molières als auch von Kleists Bearbeitung des Amphitryon-Stoffes großer Beliebtheit. Zuletzt auch im Theater Heilbronn, wo die Teilnehmer der Literaturhaus-Tagung „Seit ein Gespräch wir sind – Friedrich Hölderlin und Heinrich von Kleist im Dialog“ in den Genuss einer Inszenierung kamen. Kleists „Amphitryon“ wird auch in dem in Vorbereitung befindlichen Tagungsband eine Rolle spielen, u.a. in einer Lektüre von Justus Fetscher. Von diesem wiederum stammt ein Forschungsüberblick im Sammelband „Neue Wege der Forschung“, hrsg. von Inka Kording und Anton Philipp Knittel, Darmstadt:WBG, 2. Aufl. 2009.

März: Kaltnadelradierungen von Rolf Kuhrt zu „Das Käthchen von Heilbronn“

In diesem Monat zeigen wir ein Stück Kleist-Rezeption. Der in der ehemaligen DDR geborene Künstler Rolf Kuhrt hat in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren einen Zyklus von zehn Kaltnadelradierungen und einem Farbholzschnitt zu Kleists Stück „Das Käthchen von Heilbronn“ angefertigt, die heute im Kleist-Archiv Sembdner archiviert sind.

Rolf Kuhrt wurde 1936 in Bergzow im Kreis Genthin geboren. 1950 begann er eine Lehre als Chemiewerker im Waschmittelwerk Genthin, brach sie ab und begann eine Lehre als Schrift- und Plakatmaler in der Werbeabteilung des gleichen Betriebes. Es folgte eine Ausbildung an der Fachschule für angewandte Kunst Magdeburg und von 1956-1962 ein Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. Zu seinen Lehrern zählte unter anderem Bernhard Heisig. Kuhrt war seit 1962 Mitglied im Verband bildender Künstler der DDR bis zu dessen Auflösung, zeitweilig war er auch Vorsitzender des Bezirksverbandes Leipzig des Verbandes Bildender Künstler der DDR. An der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig hatte er eine Dozentur inne, von 1987 bis 1993 war er dort Leiter des Fachbereichs Malerei und Grafik.

Rolf Kuhrt schreibt zu seinem Zyklus:

Die Grafiken, die zum Teil ungewöhnliche Titel haben wie „Das unartige Käthchen“ oder „Des Kaisers überraschende Entdeckung“, sind oftmals keine Illustrationen im eigentlichen Sinne, sondern eine Art von Bildcollagen aus den verschiedensten Elementen des Dramas. So sehen wir auf dem Farbholzschnitt „Unter dem Holunderbusch“ über dem schlafenden Käthchen nicht den lauschenden Grafen, sondern aufgereiht die Protagonisten des Stückes, teils zu ihr niederschauend, teils an ihr vorbei. Nur wenige kaum erkennbare vegetabilische Formen deuten vielleicht den Holunderbusch an.  

- Rolf Kuhrt

Die Bilder sind aktuell noch bis Anfang April 2022 in der VHS Heilbronn im Deutschhof in der Galerie im Untergeschoss ausgestellt. Einen Teil der Bilder finden Sie aber auch hier auf unserer Homepage.

Autograph Heinrich von Kleists – Brief an den Verleger Eduard Hitzig am 2. Oktober 1810.

Das erste Objekt des Monats ist zugleich das wertvollste Stück des Kleist-Archivs Sembdner. Handschriften sind immer eine Rarität. Umso eindrucksvoller sind Autographen eines so einzigartigen Dichters wie Heinrich von Kleist (1777 – 1810). Die Stadt Heilbronn erwarb im September 1993 das schon länger bekannte, allerdings als verschollen geltende Briefzeugnis Kleists an seinen Berliner Verleger Julius Eduard Hitzig (1780 – 1849).

Der Brieftext lautet wie folgt:

Ich habe schon längst gebeten, dem Kriegsrath Peguilhen ein Exemplar des Abendblatts zu besorgen; sein Sie doch so gefällig, und richten diese Sache ein.
d. 2. Oct. 1810.
                                                                                                                      Hv.Kleist

Eher unfreundlich weist Kleist den Verleger seiner am Tag zuvor erschienenen Berliner Abendblätter – der ersten Tageszeitung Berlins – auf die versäumte Zusendung eines Exemplars an Christoph Ernst Friedrich Peguilhen (1769 – 1845) hin. Kleist hatte den Kriegsrat zwei Jahre zuvor im Haus der Henriette Vogel kennengelernt. Peguilhen war später auch der Testamentsvollstrecker sowohl von Kleist als auch von Vogel. Eduard Hitzig wiederum war in den damaligen literarischen Kreisen Berlins eine wichtige Figur und verlegte etwa E.TA. Hoffmann, Friedrich de la Motte-Fouqué oder Zacharias Werner. Auch sind von ihm Biographien bedeutender Berliner Literaten publiziert worden. Kleist, Hitzig und Peguilhen wohnten recht nah beisammen um den Berliner Gendarmenmarkt.

Das Projekt der Berliner Abendblätter, erschienen vom 1. Oktober 1810 bis zum 30. März 1811, scheiterte nach einem halben Jahr aus verschiedenen Gründen. Neben Anekdoten und kurzen Erzählungen Kleists (u.a. Über das Marionettentheater) sind in den Berliner Abendblättern vor allem lokale Meldungen, Rezensionen, Diskussionsbeiträge und (die besonders beliebten) Polizeiberichte abgedruckt. Beiträge kamen auch von Achim von Arnim, Clemens Brentano, Wilhelm Grimm, Friedrich de la Motte Fouqué, Adam Müller und Friedrich Schleiermacher. Kleist bearbeitete in der Regel die eingesandten Texte, was teilweise zu Unmut der Beiträger führte. Die Berliner Abendblätter und dazugehörend der Brief Kleists an Hitzig sind Teil eines wichtigen Projekts im letzten Lebensabschnitt des früh verstorbenen Dichters.

Literatur:

Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. von Ilse-Marie Barth, Klaus Müller-Salget, Stefan Ormanns und Hinrich C. Seeba, 4 Bde, Frankfurt am Main 1987–1997.

Günter Blamberger: Heinrich von Kleist. Biographie, Frankfurt am Main 2011. (Englisch 2021 bei Brill).

Helmut Sembdner: Assessor Hitzig, Kriegsrat Peguilhen und Heinrich von Kleist. Eine Berliner Episode, Heilbronn 1994.